Neue Blicke auf alte Quellen

Unser Projekt “Leben neben Stacheldraht” läuft nun langsam an. Anfang Juli hat Emilia in bei einem Ideenfindungsworkshop zum Geschichtswettbewerb für Thüringer Geschichtslehrer*innen in Jena einen ersten Versuch gemacht, einige Quellen zur ersten Asylunterkunft Thüringens gemeinsam mit einer Gruppe zu interpretieren.

Für den eineinhalbstündigen Workshop habe ich eine Protestbrief einer algerischen Journalistin, die im Frühjahr 2000 in dem Lager mitten im Wald lebte, und historische und neue Fotos des Neuen Hauses mitgebracht. In der Runde saßen drei Frauen, die in der DDR aufgewachsen sind und eine jüngere Frau. Alle von ihnen arbeiteten an der Schule, im Schulamt oder der Universität im Bereich der Geschichtsvermittlung.

Es war das erste Mal, dass ich die Quellen meiner Masterarbeit mit Leuten geteilt habe, die sich nicht zuvor schon mit dem Lagersystem und den schlechten Bedingungen, unter denen Asylsuchende leben müssen, beschäftigt haben. Die Diskussion und die Reaktionen auf die Quellen haben mich überrascht.

Die Fotos des Gebäudes und der Inneneinrichtung riefen vor allem bei den älteren Teilnehmenden lebhafte Erinnerung an eigene Erfahrungen im Internat, im Ferienlager und im Wehrlager während der DDR. Die Betten, Schränke und Gebäude waren ihnen vertraut. Während eine Teilnehmerin diese Wohnumgebung als “normal” und nicht außergewöhnlich bezeichnete, wendete eine andere ein, dass die manche Geflüchteten dort nicht als junge alleinstehende Menschen für ein paar Wochen wohnten, sondern mit Familien, über lange Zeit, und ohne Zuhause, in dass sie zurückkehren könnten. Unter diesem Umständen sei diese Unterkunft gar nicht normal oder ausreichend. 

Auch der Brief der algerischen Journalistin rief  unterschiedliche Reaktionen hervor: einerseits Betroffenheit, Empathie und Empörung, andererseits aber auch Schwierigkeiten, sich richtig in ihre Situation hineinzuversetzen, der Wunsch nach mehr Details aus dem Alltag der geflüchteten Frau, um ihn nachvollziehbarer zu machen. Dass die Journalistin das Lager in Mühlhausen in einen Vergleich zu Konzentrationslagern setzte, lehnten manche in der Runde ab. Eine Teilnehmende äußerte, dass ihr Ärger über diesen Vergleich es ihr schwer mache, mit der Verfasserin des Protestbriefs mitzufühlen.

Diese Reaktionen hatte ich selbst beim Lesen nicht gehabt und auch von den Menschen, mit denen ich zuvor Quellen geteilt habe, noch nicht gehört. Mir ist sehr aufgefallen, wie sehr meine eigene Sichtweise auf den Brief durch die Erzählungen meines Mitbewohners von seinem Leben in Flüchtlingsheimen geprägt war, durch die mir die Schilderungen der algerischen Journalistin plausibel und plastisch vorkamen. Insgesamt hat mir der Workshop gezeigt, wie sehr es sich lohnt, die Quellen mit anderen Menschen mit anderen Hintergründen zu besprechen, um so seine eigene Sichtweise identifizieren zu können und mehr darüber nachzudenken, welche Erfahrungen eigentlich den eigenen Blick auf die Quelle informieren.