Wissenschaft und Kunst waren nicht immer getrennt. Ein Blick zurück zeigt, dass Menschen lange beides gemeinsam praktizierten. In diesem Beitrag geben wir euch eine kurze Einführung in die Ursprünge der künstlerischen Forschung – und klären, was das für uns heute bedeuten kann.
Von Gabriel Dörner und Marie Niederleithinger
Als im Sommer 2021 erstmals fünf Künstler*innen nach Jena reisten, um mit Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Institutionen zu forschen, war wohl noch keinem der Beteiligten klar, was genau am Ende herauskommen würde. Drei Monate später eröffnete im TRAFO, einem ehemaligen Umspannwerk am Rande der Innenstadt, eine Ausstellung unter dem Titel »Entstehung einer künstlerischen Tatsache«. Zu sehen waren Kunstwerke, die aus der Zusammenarbeit mit den Forscher*innen entstanden waren. Jedoch: Nicht wenige Gäste fragten uns, was genau da in den drei Monaten passiert war. Wie wurde die Forschung zur Kunst? Und was sagen die Kunstwerke über den wissenschaftlichen Gegenstand aus, der ihnen zugrunde liegt?
Nun führen wir unser Arts & Science-Programm zum zweiten Mal durch. Auch in diesem Jahr haben wir fünf Künstler*innen eingeladen, nach Jena zu kommen. Erneut lassen sie sich von den Themen unterschiedlicher Forschungsgruppen inspirieren und werden im Herbst ihre Ergebnisse in einer Ausstellung präsentieren. Seit zwei Monaten sind die Künstler*innen nun in Jena. Sie treffen sich regelmäßig mit ihren Forschungspartner*innen; arbeiten in Laboren, Werkstätten und ihren Ateliers. Während die »Künstlerischen Tatsachen« sprichwörtlich in ihrer Entstehung begriffen sind, nutzen wir die Gelegenheit, euch einen Einblick in die Hintergründe unseres Projektes zu geben.
Was machen wir eigentlich?
Das ist unsere Kernidee
Zunächst ein paar Zeilen zu unserem Grundverständnis, also dem konzeptuellen Fundament, auf das wir unser Projekt bauen. Wir bringen nicht nur Wissenschaft und Kunst zusammen, sondern eröffnen darüber hinaus einen Dialogprozess mit der Zivilgesellschaft. Wir verstehen unser Projekt als ein Reallabor – ein öffentliches Experiment, bei dem alle Beteiligten voneinander lernen. Natürlich kann es keine Garantie geben, dass die Zusammenarbeit für alle fruchtbar und lehrreich ist. Es kommt ganz darauf an, mit welcher Intention sich die Beteiligten auf das Experiment einlassen. Wir glauben aber, dass es ein großes Potenzial für alle der beteiligten Gruppen gibt, ganz egal, ob der individuelle Zugang eher zielgerichtet oder spielerisch motiviert ist.
Für Künstler*innen ermöglichen wir einen exklusiven Einblick in die Welt des empirischen Wissens: Woran wird gerade geforscht und warum? Mit welchen Materialien, Methoden und Abläufen arbeitet ein Forschungsinstitut, um der Antwort auf die aktuellen Forschungsfragen in Jena ein Stück näher zu kommen? All dieser Informationen können sich die Künstler*innen bedienen und sich daraus nicht nur Themen, sondern auch neue Ausdrucksformen für ihre künstlerische Arbeit erschließen. Sie verbringen viel Zeit mit den Forscher*innen aus »ihren« Instituten – und werden von ihnen nicht zuletzt auch mit Ressourcen versorgt, die sie für ihre Kunstwerke benötigen.
Durch den intensiven Austausch mit den Künstler*innen werden Wissenschaftler*innen mit komplementären Herangehensweisen an Problemstellungen und -lösungen konfrontiert und können so selbst eine neue Perspektive einnehmen: Wie können Forschungsthemen zugänglich gemacht werden? Welche ästhetische Methode kann die Erkenntnisse anders vermitteln? So wird ein Zugang zu wissenschaftlichen Themen auch für die breite Bevölkerung erschlossen. Womit wir bei der dritten Gruppe der Beteiligten wären: Den Bürger*innen aus der Zivilgesellschaft. Gerade in Zeiten, in denen Wissenschaftsskepsis und Verschwörungserzählungen mehr Zulauf erhalten, scheint das mehr denn je geboten. Indem wir den Dialogprozess zwischen Wissenschaft und Kunst auch für die Zivilgesellschaft öffnen, Transparenz und Partizipation ermöglichen, bauen wir Barrieren zu oft unzugänglichen Themen ab und schaffen einen Raum für neue Erfahrungen. Denn gerade die Kunst kann die volle Bandbreite der Empfindungen ansprechen und so Menschen für komplizierte und abstrakte Themen auf einem anderen sinnlichen Level empfänglich machen.[1]
Kunst und Wissenschaft wieder vereint?
Ein Blick in die Geschichte
Unsere bisherigen Ausführungen legen nahe, dass sich alle Beteiligten entweder als Künstler*innen oder als Wissenschaftler*innen verstehen – doch es gibt auch Überlappungen. Historisch ist die Trennlinie zwischen Kunst und Wissenschaft nicht so klar: Das berühmteste Beispiel ist wohl Leonardo da Vinci, der von 1452 bis 1519 in Italien lebte. Er hat sowohl künstlerische als auch naturwissenschaftliche Mittel eingesetzt, um Muster in der Natur, im menschlichen Körper und in der Architektur zu untersuchen. Dabei hat er mit vielen Expert*innen aus den unterschiedlichen Disziplinen zusammengearbeitet.
Eine in ihrem Fachgebiet ebenso berühmte, aber weithin weniger populäre Person ist Maria Sybilla Merian, die von 1647 bis 1717 lebte. Auch sie praktizierte Kunst und Wissenschaft zusammen: Sie wird als Wegbereiterin der Insektenkunde gefeiert und hat Feldforschung auf mehreren Kontinenten betrieben. Zugleich hielt sie ihre Entdeckungen als Illustratorin und Graveurin eigenhändig fest und veröffentlichte ihr Werk als Verlegerin selbst.
Wir können festhalten, dass in früheren Zeiten Kunst und Wissenschaft häufig zusammengedacht wurden. Erst langsam gewinnen wir wieder Vorbilder, die die Disziplinen in ihrer Praxis vereinen – das liegt daran, dass Kunst und Wissenschaft in der Zeit der Aufklärung tiefgreifend voneinander getrennt wurden. Die Zeit der Universalgelehrten war gegen Ende des 17. Jahrhunderts vorbei. Wissenschaften und die Künste wurden in den Enzyklopädien in unterschiedliche Abschnitte sortiert und an getrennten Hochschulstandorten gelehrt – überwiegend ist das bis heute so. Doch es regt sich etwas! Seit den 80er Jahren bemüht sich die Arts-&-Science-Bewegung darum, dass Kunst und Wissenschaft wieder in einen stärkeren Austausch kommen. Anstatt ein Selbstzweck zu sein (»L’ art pour l’art), ist die Kunst auf der Suche nach Sinn, nach ihrem Daseinszweck in der Gesellschaft. Die Wissenschaft wiederum sucht nach neuen Methoden des Austauschs und der Vermittlung. Die Wissensproduktion formiert sich neu, oder wie es Annemarie Matzke in ihrem Artikel beschreibt: »[Es wird] die bisherige Abgrenzung von Kunst und Wissenschaft grundlegend in Frage gestellt mit dem Ziel, Hierarchisierungen von Wissensformen zu unterlaufen.«[2] Gleichzeitig gibt es aber auch Kritik daran, dass künstlerische Forschung mehr und mehr in Institutionen Einzug hält.[3] Auch wir sind mit unserem Projekt Teil dieser Bewegung und des Diskurses geworden – und etablieren den Arts-&-Science-Gedanken in Mitteldeutschland, wo er noch vielen Leuten neue Möglichkeiten aufzeigen kann.
Warum eigentlich »Künstlerische Tatsachen«?
Zum Titel unseres Projekts
Sicher habt ihr euch gefragt, was es mit dem Titel des Projektes eigentlich auf sich hat. »Künstlerische Tatsachen« – das ist eine Anlehnung an ein Buch von Ludwik Fleck, das 1935 erschienen ist. Es heißt »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache« und begründete eine Forschungsrichtung, die sich mit der Wissensproduktion und den Denk- und Handlungsweisen innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft befasst. In seinem Buch beschreibt Fleck, dass wissenschaftliches Wissen immer innerhalb eines speziellen psycho-sozialen und kulturellen Kontextes entsteht. Er prägte den Begriff »Denkkollektive«, der bedeutet, dass eine Gruppe von Menschen ihr Wissen ausgehend von gemeinsamer Sprache, Verhalten und Überzeugungen produziert. So kommt es auch, dass verschiedene»Realitäten« in unserer Gesellschaft koexistieren können, weil sie von verschiedenen Denkkollektiven entwickelt und aufrechterhalten werden.
Was andere innerhalb unseres Denkkollektivs bereits vor uns formuliert haben, beeinflusst unseren Blick auf die Welt – es bestimmt unsere Praxis. Doch in unserem Alltag gehören wir verschiedenen Denkkollektiven an und können ebenso in Begegnungen mit anderen Menschen außerhalb unserer Blase neue Impulse erlangen. Der Austausch zwischen den Denkkollektiven kann unsere – wie Fleck es nennt – Denkstile erweitern, ergänzen und sogar verändern.
Wir übertragen Flecks Gedanken zur Entstehung von empirischem Wissen auf die Welt der Kunst. Auch durch künstlerisches Schaffen kann neue Erkenntnis entstehen. Das Kunstwerk ein Wissensspeicher sein – oder frei nach Fleck: eine künstlerische Tatsache. Wie bei einem wissenschaftlichen Forschungsprozess steht in der künstlerischen Forschung das Ergebnis nicht von vornherein fest. Auch wenn wir in unserem Projekt Themen eingrenzen und Rahmenbedingungen vorgeben, ist das fertige Kunstwerk für uns eine Überraschung! Den Weg dorthin möchten wir, wie beim wissenschaftlichen Vorgehen, transparent machen. Daher liegt es uns besonders am Herzen, Methoden künstlerischer Forschung für alle Beteiligten zugänglich zu machen: Produktionsprozesse werden sichtbar und es entstehen verschiedene Möglichkeiten der Begegnung.
Eine gute Balance?
Kunst und Wissenschaft auf Augenhöhe
Laut Alva Noë können künstlerische Werke Mittel sein, um unseren Blick auf die Welt zu schärfen. Indem Künstler*innen Handlungsabläufe und Gegenstände alltäglicher Praxis verfremden, irritieren sie unsere Sichtweise und lassen uns vermeintliche Gewissheiten hinterfragen. Künstlerisch Forschende können dabei die Bandbreite an Methoden nutzen, welche aus den verschiedenen Wissenschaftstraditionen hervorgegangen ist.[4] So können sie ethnografisch forschen und beispielsweise Machtbeziehungen und ungleiche Chancen von Menschen verschiedener Hautfarben, Herkunft und Geschlechtsidentität berücksichtigen, wie es für feministische und postkoloniale Ansätze zentral ist. Oder sie können datenbasiert und von einer Theorie ausgehend auf Entdeckungsreise gehen, indem sie empirische Methoden und Prinzipien verwenden, die sie dann während ihres Prozesses kritisch hinterfragen können.
Neben dem Begriff der künstlerischen Forschung werden oft andere Begriffe wie »kunstbasierte Forschung« oder »Forschung durch Kunst« verwendet, die sich nicht immer klar voneinander abgrenzen lassen.[5]
Auch der Begriff »Arts & Science« muss nicht hundertprozentig mit künstlerischer Forschung überlappen und kann für verschiedene Modi des Zusammenarbeitens zwischen Künstler*innen und Wissenschaftler*innen stehen: Die Kunst hat das größere Gewicht in der Zusammenarbeit, wenn zum Beispiel Künstler*innen die ästhetischen Dimensionen von wissenschaftlichen Prozessen und Gegenständen untersuchen. In diesem Modus einer Zusammenarbeit kann es passieren, dass die entstehenden Kunstwerke als zu seicht in Bezug auf die wissenschaftlichen Themen wahrgenommen werden oder das künstlerische Vorgehen als zu wenig ausgereift daherkommt.
Hat stattdessen die Wissenschaft großes Gewicht, beispielsweise weil die Forschungsinstitution selbst einen Aufenthalt für Künstler*innen ausschreibt um sinnlich-ästhetische Zugänge zu ihrem Themen zu schaffen, kann es passieren, dass die Kunstwerke als zu abhängig von den Forschungssettings wahrgenommen werden und sich unterordnen. Hier werden schnell die Grenzen zur Wissenschaftskommunikation verwischt und die Kunstproduktion als Vehikel zur »Erklärung« von Wissenschaft gebraucht.
Eine Begegnung von Kunst und Wissenschaft auf Augenhöhe ist dann möglich, wenn beide Seiten sich ergebnisoffen aufeinander einlassen; die Denkweisen der jeweils anderen Disziplin anerkennen; das Schaffen in den Dienst des künstlerischen Forschungsthemas und der damit verbundenen gesellschaftlichen Herausforderungen stellen – und so gemeinsam etwas Neues zu erschaffen. Das ist es, was wir bei »Künstlerische Tatsachen« erreichen möchten.
Mit unserem Projekt schlagen wir den Bogen zurück zu den oben erwähnten historischen Beispielen und inspirieren unsere Teilnehmenden, Grenzgänger*innen ihrer eigenen Denkkollektive zu werden. Alle Beteiligten, sowohl Wissenschaftler*innen als auch Künstler*innen, werden zu kreativ-forschenden Personen, die mit ihrem Schaffen die Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft neu aufleben lassen.